Text von Fatoş Üstek

Commissioned Text for the catalogue:
Özlem Günyol & Mustafa Kunt

Sensorisches Détournement
Entlang der Dimensionen von Präsenz

Alle Kunstwerke sind Objekte und sollten als solche behandelt werden, diese Objekte stellen jedoch für sich gesehen kein Ende dar: Sie sind Werkzeuge zur Beeinflussung von Betrachtern. Das künstlerische Objekt stellt sich trotz seines scheinbar objektähnlichen Charakters daher als Verbindung zwischen zwei Subjekten dar. Das schaffende und provozierende Subjekt auf der einen und das empfangende Subjekt auf der anderen Seite. Letzteres nimmt das Kunstwerk nicht als reines Objekt wahr, sondern als Zeichen menschlicher Präsenz.

                                               Asger Jorn, Detourned Painting

Der obige etwas kompliziert klingende Titel soll bereits einen ersten Hinweis auf die künstlerische Praxis von Özlem Günyol und Mustafa Kunt geben. Die beiden Künstler arbeiten seit mehr als einem Jahrzehnt zusammen und beschäftigen sich eingehend mit den großen Narrativen. In ihrem Bestreben, die Welt zu ergründen, und indem sie die Komponenten verdeutlichen, die dem Zeitgenössischen seine Individualität verleihen, bringen Günyol und Kunt die dahinter wirkenden Kräfte zum Ausdruck. Im Gegensatz zu Naturwissenschaftlern oder Sozialtheoretikern verfolgen sie in ihrem Denken einen indirekten Weg und experimentieren mit dem Potenzial von Phänomenen, die sich in etwas Anderem manifestieren, jedoch alle inhärenten Informationen dieses Anderen beibehalten. Im Zusammenhang dieser Transformationsprozesse bedienen sie sich unterschiedlichster Methoden. Als Subtext dieser Vorgehensweise setzen sie verstärkt auf Kodifizierung, Nebeneinanderstellung, Übertragung und Klassifizierung. Dabei konzentrieren sie sich nicht nur auf die Domäne des Visuellen, sondern stellen mit ihrer Kunst auch das Sensorische dar, einschließlich auraler und taktiler Stimuli. Die aurale Ebene beschränkt sich nicht nur auf Geräusche und Stimmen, sondern umfasst auch den linguistischen Bereich, um das ästhetische Erlebnis zu bereichern. Günyol und Kunt erkunden die Beziehung zwischen Symbolen und Begriffen und ihrer Rolle in der Bildung von Ontologien (einer Person, einer Gesellschaft, einer Kultur); überdies konzentrieren sie sich auf das Objekt als Träger einer immanenten Bedeutung, während sie nach Möglichkeiten jenseits davon suchen.

Die beiden Künstler arbeiten nicht nur innerhalb der Beschränkungen eines bestimmten Mediums; abhängig vom spezifischen Kontext erkunden sie vielmehr verschiedene Mittel und Produktionsmedien. Insofern verändert sich der Charakter ihrer Arbeiten in Relation zum entsprechenden Kontext. Ihre Arbeiten sind Verräumlichungen dieser Erkundungen, wobei sie versuchen, den formalen Wurzeln des speziellen Gegenstands auf den Grund zu gehen. Für ihre Arbeit Myth (2013) haben sie beispielsweise eine große Keramikvase hergestellt, die das eingravierte Bild eines sich aufbäumenden Bullen trägt, der mit weißen Stricken festgebunden ist. Darüber und unterhalb davon befindet sich jeweils eine Linie aus Masken, die der Graphic Novel “V für Vendetta” entspringen und die die herrschenden Mächte der Gesellschaft der Gegenwart symbolisieren sollen bzw. genauer gesagt des europäischen Establishments.

Ein ähnlicher Gedanke liegt auch Untitled (from 1804 to 2006) (2006) zugrunde. Hier werden die Grenzlinien auf dem europäischen Kontinent als sich fortwährend veränderndes Puzzle dargestellt. Ceaseless Doodle (2009) hingegen zeigt die Grenzen der Länder unserer Erde als wirre Kritzelei, die auf einem DIN A4 Blatt Papier festgehalten wurden. Im Falle von What is on today (2006) plädieren die beiden Künstler dafür, die täglichen Nachrichten in Form von Bildern zu lesen, die über die Schlagzeilen der Zeitungen gedruckt und an die Wände der Galerie geheftet wurden, oder als alternatives Symbol des Widerstands ein Seil zu knüpfen wie in …And Justice for all (2010).

Günyol und Kunt haben im Laufe ihres künstlerischen Werdegangs eine eigene Sprache aus Codes und Symbolen kreiert, die in ihrem komplizierten Netz aus Beziehungen in Erscheinung treten. Weder bedienen sie sich existierender Symbole, noch geben sie sich mit der Dekodierung der existierenden Trichotomie von Bedeutung zufrieden. Anstatt dessen fügen sie dem thematischen Gegenstand einer Arbeit eine weitere Ebene hinzu. Als die Europäische Zentralbank beispielsweise die neue Serie von Banknoten vorstellte, richteten Günyol und Kunt ihr Augenmerk auf die andauernde Finanzkrise und bildeten einzelne Komponenten dieser neuen Serie ab.

Das Konterfei von Europa aus der griechischen Mythologie, welches als Sicherheitsmerkmal der Banknoten verwendet wird, hat sie dazu inspiriert, alte Darstellungen von Europa zu betrachten. Anstatt jedoch ihr Bild zu fetischisieren, wählten sie ein Bild von Zeus, der zumeist neben Europa dargestellt wurde, um den kontextuellen Bezug zu Macht und Herrschaft herzustellen. Im Falle der Keramikvase haben Günyol und Kunt mögliche Zugangspunkte für den Betrachter integriert. Überdies haben sie ein bekanntes kulturelles Bild aufgenommen, die Geschichte der Heldin Vendetta – und die berüchtigte Maske aus dem Roman auf der Oberfläche der Vase reproduziert. 

Die Einführung der neuen Euro-Banknoten haben Günyol und Kunt, in ihrem Bestreben auf die europaweite Finanzkrise hinzuweisen, als Anregung aufgegriffen, eine Keramikvase herzustellen. Ihre Beschäftigung mit nationalen Identitäten hat sie in diesem Zusammenhang im Falle von Ceaseless Doodle und Untitled (from 1804 to 2006) bis an die Abstraktion herangeführt, um die undurchsichtige aber wichtige Problematik darzustellen. In den zuvor erwähnten Arbeiten stellen Günyol und Kunt die Methoden von Erweiterung und Reduktion nebeneinander und bringen hier in erster Linie die assoziativen Bezüge zum Thema zum Ausdruck, wobei sie diese zu einem Statement formen, dass diese Assoziationen aktiviert. Dieser Prozess beruht nicht auf der einfachen Gleichung “A plus B ist C”, sondern vielmehr auf einer Kettenreaktion der geistigen Aktivitäten, Assoziationen und Gestalten, die für sich selbst existieren. Insofern übertragen die beiden Künstler ihr Thema auf einen anderen Körper, der dem ursprünglichen Motiv scheinbar unähnlich ist, jedoch mit diesem eng verwandt ist und sogar auf dem gleichen Untergrund steht. Dieser topologische Transfer ermöglicht die Unterordnung der bestimmenden Eigenschaften des Subjekts auf einen anderen Körper. So zeigen Günyol und Kunt beispielweise in einer fortlaufenden Linie von Arbeiten Nationalflaggen als Subjekte von Interventionen und konzentrieren sich dabei auf deren physische Beschaffenheit.

Bei der Arbeit mit dem Titel f.skl.246 (2009) handelt es sich um einen Tintenstrahldruck auf Baumwollpapier, der in alphabetischer Reihenfolge die Farben der 246 Nationalflaggen der entsprechenden Länder abbildet. f.skl.246 gleicht einem Barcode der Nationen, während Flag-s (2009) mit seiner Schwärze alle Flaggen in einem Bild verschmilzt. Der Prozess der Überlagerung und Abstraktion verleiht der künstlerischen Praxis von Günyol und Kunt die Kraft für eine Vernunftkritik, ohne eine heteronome Verletzung der Autonomie der Ästhetik zu begehen. In gewisser Hinsicht erzeugen die abstrahierten Staaten (246 Flaggen aller existierenden Nationen der Welt) kein vereinheitlichtes Bild, sondern verweisen auf subtile Weise auf Aspekte von Freiheit, kollektiver und individueller Identität und Zugehörigkeit. Durch den gewählten abstrakten Ausdrucksmodus der Flaggen, die nationale Symbole darstellen, stellen Günyol und Kunt die Autonomie der Arbeit als Kunst sicher.

Der Nachhall des autonomen Scheins ihrer Praxis kommt in ihrer Arbeit mit dem Titel Hullabaloo (2009) zum Tragen, für die 246 Lautsprecher in einem riesigen Lautsprecher zusammengeführt werden, der die Nationalhymnen der entsprechenden Nationen abspielt. Die Musik ist als Kanon choreografiert, wobei die Abfolge darauf beruht, dass jeweils zur Hälfte der vorherigen Hymne eingesetzt wird. Auf diese Weise entsteht ein misstönender Klangteppich und die einzelnen Melodien gehen in der Kakophonie unter. Keine einzige Hymne geht über die anderen hinaus, die jedoch alle in voller Länge abgespielt werden. Diese Überblendung emotional aufgeladener Melodien wirft die Frage von kollektiver und individueller Existenz auf. Durch das Heraufbeschwören der Vorstellung von Zugehörigkeit bringen sie auch den Begriff von Wahrheit im Sinne Adornos ins Spiel. In seiner Ästhetischen Theorie schreibt Adorno, dass der autonome Schein der Kunst gerade aus seiner souveränen Wahrheit besteht.[1] Ihre Suche nach souveräner Wahrheit kommt in der Arbeit Perfect Couple (2010) zum Tragen. Die beiden Künstler hatten sich mit dem Friedrich-Ebert-Denkmal an der Fassade der Paulskirche in Frankfurt am Main beschäftigt. Die Figur wurde zweimal durch den Künstler Richard Scheibe, einmal vor und einmal nach dem Zweiten Weltkrieg, hergestellt. Die zuerst entstandene Figur unterschied sich von der späteren Version, hier hatte er Friedrich Ebert, als erstes frei gewählte Staatsoberhaupt von Deutschland, als starke und kraftvolle Person dargestellt. Günyol und Kunt unterstreichen diese Unähnlichkeit in der Form von zwei gleichgroßen Fotografien, die exakt am Aufstellungsort der späteren Version platziert wurden. Der spekulative Aspekt der authentischen Handschrift des Künstlers wird durch die Untersuchung jener mysteriösen Verschiebung in Scheibes künstlerischem Werk (der sich in den 30er Jahren den Nazis angeschlossen hatte) angedeutet. Im Falle dieser Arbeit ist der Begriff der ästhetischen Negativität der Schlüssel zum Verständnis der zweifachen Darstellung als souveränen Subversion des Rationalen und damit der Unterordnung von Wahrheit.

Die künstlerische Vorgehensweise von Günyol und Kunt beruht auf Dekonstruktion und Détournement. Dekonstruktion verneint die Möglichkeit reiner Präsenz oder einer grundlegenden oder immanenten oder stabilen Bedeutung; sie verwirft die Vorstellung von absoluter Wahrheit, unvermitteltem Zugang zur “Realität” und somit von konzeptueller Hierarchie. Détournement (dt. Zweckentfremdung) ist die Aufnahme früherer oder gegenwärtiger Kunstwerke in die übergeordnete Konstruktion eines Milieus. Die Dekonstruktion geht auf den Semiologen und Philosophen Jaques Derrida zurück, Détournement auf die Situationistische Internationale. Günyol und Kunt versuchen diese beiden Methoden auf unterschiedliche Weise einzusetzen.

Für Spread the Word (2012) haben sie die in politischen Kampagnen und auf Parteiplakaten in Deutschland verwendeten Begriffe zusammengetragen und durch Dekonstruktion das erfolgreiche Funktionieren des nicht-ästhetischen Diskurses wie der politischen Zugehörigkeit eines Landes untergraben, indem sie das verwendete Vokabular alphabetisch aufgelistet haben. Mit Fresh like the First Day (2011) gehen sie mit der Dekonstruktion noch einen Schritt weiter und brechen die türkische Verfassung in ihre Einzelteile auf und zwar in die Buchstaben des türkischen Alphabets, Satzzeichen und Zahlen: 53 schwarze Bücher, jedes enthält nur ein Element der Verfassung, dessen exakte Position im Originaltext angegeben wird. Durch die Dekonstruktion der Verfassung und die Reduzierung ihres bedeutungsschweren Inhalts auf eine Reihe von Symbolen und Zeichen wird der bedauerliche Verlust in seiner Bedeutung verzerrt. Mit anderen Worten Fresh like the First Day ist ein Détournement der Verfassung in ein vielfältiges ästhetisches Erlebnis des Ganzen und seiner konstituierenden Teile. Auf ähnliche Weise präsentiert das Video On the stage (2010) körperliche Posen von Protesten, die an zeitgenössischen Tanz erinnern, wobei die Tänzer in einer Pose innehalten bevor sie zur nächsten übergehen. Die Komposition der vereinzelten Bewegungen entkoppelt das ästhetische Erleben von der Aussagekraft, die jede Aufführung einfordert. Anstatt dessen wird das Erlebnis als Objekt eines kognitiven Prozesses präsentiert.[2]Diese beiden Arbeiten fokussieren lediglich auf die Produktion von Politik durch ihre Komponenten und erzeugt damit etwas sinnlich Ansprechendes während der Kontext durch Dekodierung verwandelt wird. Dieser Aspekt ist auch den Arbeiten BTO-28, CBT-65, BTO-22 (2013) und Untitled (Series) (2010) zu eigen. Erstere ist die akustische Kodierung von Stacheldraht und die zweite Arbeit eine Darstellung von militärischen Operationen. Jenseits ihres kontextuellen Détournements beruhen diese Arbeiten auch auf einem sensorischen Détournement, welches auf die Wahrnehmung zielt, wobei es auf experimentelle Weise nacheinander unterschiedliche Sinne anspricht und sie somit jeweils auf die anderen überträgt.

BTO-28, CBT-65, BTO-22 überträgt das Körperliche auf das Akustische. Bei Untitled (Series) wird die linguistische in eine ikonografische Darstellung verwandelt und Myth überträgt das Visuelle ins Taktile.

Das sensorische Détournement, wie es Günyol und Kunt betreiben, ist die Erkundung der Wahrnehmung der einen Sache, die einer anderen Sache entspringt, die sich von der ursprünglichen Sache unterscheidet und doch ihr gleich ist. In Übereinstimmung mit den Ideen von Einfachheit wie sie Guy Debord und Gil J Wolman[3] 1956 in ihrem Manifest A User’s Guide to Détournement formulierten, nehmen Günyol und Kunt ihre ästhetische Haltung in Entsprechung mit der bewussten oder unbewussten Erinnerung des ursprünglichen Kontexts wahr. Durch das Zusammentragen von referentiellen Zeichen und der Einführung assoziativer Zeichen nehmen Özlem Günyol und Mustafa Kunt vertraute und unvertraute Aspekte in ihre Arbeiten auf, während die Nebeneinanderstellung das Assoziationsgefüge zusätzlich anregt. Im Kern ihrer künstlerischen Praxis geht der Gehalt der Form voraus und die Form übersteigt den Gehalt.

——————————-

Fatoş Üstek ist freie Kuratorin und Autorin aus Istanbul und lebt aktuell in London. Sie war Co-Kuratorin der zehnten Gwangju Biennale und Gastdozentin am Vision Forum der Linkopings Universitet, Schweden. Unter anderem kuratierte sie eine Oper in fünf Akten an der David Roberts Art Foundation (DRAF) in London; die Ausstellungs-Trilogie Now Expanded, die in der Kunstfabrik, Berlin stattfand; im Tent, Rotterdam; und in der DRAF, London sowie diverse Gruppenausstellungen in Europa und der Türkei. Sie ist Mitglied der AICA, Türkei und schreibt regelmäßig Beiträge für Kunst-Publikationen wie Camera Austria International, Art Review, RES Art World / World Art. Üstek schrieb für internationale Publikationen wie den Reader der Momentum Biennale, der Borusan Kunst Sammlung und zahlreiche Künstler Kataloge. Sie ist eine der Gründungs-Herausgeberinnen des Buches „Unexpected Encounters Situations of Contemporary Art and Architecture“ (Turkish Only, 2012) herausgegeben vom Zorlu Centre, Istanbul; zudem ist sie Autorin des Book of Confusions, 2012, herausgegeben von Rossi & Rossi, London.


[1] Theodor Adorno, Aesthetic Theory, University Of Minnesota Press; 1 edition (August 12, 1998), S.152

[2] Christoph Menke, The Sovereignty of Art, MIT Press, 1998, S. xiii

[3] “The distortions introduced in the détourned elements must be as simplified as possible, since the main impact of a détournement is directly related to the conscious or semiconscious recollection of the original contexts of the elements.“ Quelle: http://www.cddc.vt.edu/sionline/presitu/usersguide.html