Text von Hanna Magauer

Commissioned Text for the catalogue:
Özlem Günyol & Mustafa Kunt

Bringing down the Flags
Über Fahnen und Fahnenmasten in den Werken von Özlem Günyol und Mustafa Kunt

Eine ebenmäßige Fläche unterbricht das Pflaster auf dem Gehsteig des Dortmunder Hohen Wall: eine quadratische Platte von etwa 1,5 m Seitenlänge, eingelassen in den Boden. Der dunkle, matte Stahl trägt auf den ersten Blick keinerlei Information. Sicherlich ein ästhetischer Störfaktor im regelmäßigen Muster der grauen Pflastersteine, doch ein äußerst zurückhaltender. Erst bei genauerem Hinsehen erfährt man durch eine Inschrift, dass es sich um einen „12 meter stainless steel flagpole“ handeln soll. Das Kunstwerk Hemzemin des türkischen Künstlerduos Özlem Günyol und Mustafa Kunt wurde im Rahmen ihrer Einzelausstellung von Mai bis Juli 2014 in der Nähe des Dortmunder Kunstvereins angebracht und offenbart hier nur das Endprodukt eines Prozesses, in dessen Zuge ein 12 m hoher Fahnenmast mitsamt der Unterkonstruktion, die ihn im Boden befestigen sollte, eingeschmolzen wurde, um zu einer etwa 1 cm dicken, 1,5 m breiten Platte gegossen zu werden; ein Video, das den Vorgang dokumentiert, ist in der Ausstellung zu sehen.

„Flagge zeigen“?: Die Repräsentationslogik der Fahne

Eine vergleichbare Arbeit des in Frankfurt lebenden und seit 2005 zusammenarbeitenden Künstlerduos stellt Flagpole (2007) dar. Bei diesem wurde ein handelsüblicher Fahnenmast aus Aluminium vor der Frankfurter Paulskirche aufgestellt und mithilfe eines Schweißgerätes zu einer abstrakten Figur verbogen. Flagpole bildet das erste Werk in einer Reihe von Arbeiten mit Fahnen und Fahnenmasten, die wohlgemerkt ein Jahr nach der Fußballweltmeisterschaft 2006 ihren Anfang nimmt: Ein signifikantes Datum, hat doch im Zuge dieser Veranstaltung  –  und auch in Zusammenhang mit der umstrittenen Medien-Kampagne „Du bist Deutschland“ (2005/2006), die auf ein positives Erstarken des deutschen Nationalgefühls zielte  –  der öffentliche Diskurs um das Zeigen der schwarz-rot-goldenen Flagge eine viel diskutierte Wende genommen, konnten die Deutschen nun doch „endlich wieder stolz sein“ auf ihre Staatsangehörigkeit und vor allem: Flagge zeigen. Die Verfremdung eines Fahnenmasts vor der Paulskirche, 1848 Schauplatz der Nationalversammlung, lässt sich unschwer als Kommentar auf diese wieder erstarkten Nationalgefühle lesen. Doch spielen die jeweiligen Nationalfarben selten eine Rolle in den Werken Günyols und Kunts, und auch andere Staatssymbole, wie in Hullabaloo Nationalhymnen oder in Ceaseless Doodle Umrisse von Landesgrenzen, treten meist nicht individuell auf, sondern in Masse, akkumuliert zu einem globalen Rauschen. In f.skl.246 (2009) sortierten die Künstler die Farben der 246 Nationalflaggen der Erde[1] nach alphabetischer Ordnung der jeweiligen Ländernamen und druckten sie als abstrakte Anordnung horizontaler Streifen auf Baumwollpapier. Im Ergebnis, das Gerhard Richters Stripes-Serie zitiert, gehen die individuellen Landesfarben in polychromem Flimmern unter. Dabei blendet die alphabetische Ordnung auch machtpolitische Faktoren und Hierarchien zugunsten des Ästhetischen aus. Wenn diese doch wieder Einzug halten, dann durch eine formale Hintertür: Denn das Format des Bildes ist festgelegt durch das spezifische Seitenverhältnis der Flagge Ruandas, heißt es im Künstlerstatement zur Arbeit. In der Arbeit Flag-s (ebenfalls 2009), bei der die Farben der Flaggen aller Länder der Welt übereinander gedruckt wurden und das daraus resultierende Bild anschließend auf Stoff übertragen wurde, ist die Flagge Ruandas, verfremdet auf dem Kopf stehend, als einzige identifizierbar, da sie aufgrund dieses Seitenverhältnisses über die ansonsten schwarze Fläche hinausragt. Diese Herausstellung eines Landes, in dem Konflikte um nationale Zugehörigkeit zum Völkermord führten, wird als reines Ergebnis eines formalästhetisch festgelegten Regelwerks verschleiert. Ohne eine Aussage über spezifische politische Ereignisse zu treffen, über sie aufzuklären oder neues Wissen zu generieren, wird dennoch subtil unsere Aufmerksamkeit auf sie gelenkt.

Die „Durchdringung der Aspekte Medialität und Macht und deren Anbindung an das kulturelle, soziale und politische Verständnis von Identität in unseren heutigen gesellschaftlichen Formationen“[2], die sich, wie Felix Ruhöfer schreibt, in den Arbeiten Günyols und Kunts offenbart, lässt sich am Beispiel der Flagge veranschaulichen. Deren Funktion als Nationalsymbol ist vielfältig: Sie bewegt sich von der Verteidigung territorialer Besitzansprüche über das Festigen von Grenzen bis hin zur Repräsentation und Kommunikation von Zugehörigkeit. Flaggen definieren visuell greifbar den Staat als Entität, manifestieren ein Innen und Außen – und erreichen identifikatorische Wirksamkeit u. a. über Farb- und Formsymbolik. Auch in Staatenbünden wie der Europäischen Union versichern sie eine gemeinsame Identität, ohne der Fragilität „gemeinsamer Werte“, den gewaltsamen Ausschlussmechanismen an ihren Grenzen und den existenziellen Bedingungen ihrer Einwohner/innen Rechnung zu tragen.[3] Die Komplexität von weltweiten Mechanismen der Inklusion und Exklusion kulminiert, so könnte man sagen, in der auf den ersten Blick einfachen Symbolik der Flagge. In ihrer Materialität, im textilen Objekt wird diese Symbolik – man denke an die Sieges- und Aufbruchssymbolik wehender Fahnen –, über die zweidimensionale Ästhetik und der Wirkung hinausgehend verstärkt, und so ist es sicherlich kein Zufall, dass auch bei Flag-s ein textiles Trägermaterial gewählt wurde.

So ist auch ein Fahnenmast die materielle Verkörperung einer solchen Logik des Repräsentativen. Zum einen als Marketinginstrument etwa von Unternehmen genutzt, zum anderen vor allem von politischer Seite, etwa vor Rathäusern, Regierungsgebäuden oder Botschaften aufgestellt, erfährt die der Repräsentation und überhöhender Symbolik dienende Funktion des Fahnenmasts im Alltag wenig Beachtung. Sein Sinn und Zweck ist gewissermaßen der eines „Bildträgers“, der die Fahne in die Höhe befördert, dem Symbol zu großer Sichtbarkeit über den Köpfen der Menschen verhilft: „Its function is to fortify the represented image by carrying the image to an ‘inaccessible’ point“, so die Künstler. Das Verankern im Boden dient dabei nicht nur der Befestigung, sondern auch der deutlichen Markierung des (eigenen) Territoriums.

„Eins mit dem Grund sein“: Basisdemokratie für die städtischen Umgebung

An solche Aspekte der physischen Verankerung knüpft auch die Arbeit Hemzemin an, deren Titel, eine türkische Wortzusammensetzung, in etwa „eins mit dem Grund sein“ bedeutet. Das Material des ursprünglich in die Höhe strebenden Bildträgers wird nun also buchstäblich den Passant/innen zu Füßen gelegt. In der Projektbeschreibung zu Hemzemin heißt es: „It [the flagpole] governs its surrounding by standing vertically against the human body”, und weiter: „The work Hemzemin aims to replace the physical relation between human body and a flagpole by carrying a flagpole to the ground level.” Die Aktion der Umformung des Fahnenmasts – die in der Videodokumentation festgehalten und fester Bestandteil des Werks ist – soll demnach die Relation des Objekts zum menschlichen Körper innerhalb des öffentlichen Raumes korrigieren und die durch die Senkrechte transportierte Aura der Unantastbarkeit unterwandern.

Günyol und Kunt sind mit diesem Misstrauen gegenüber repräsentativer Vertikalität nicht allein: Der Bruch mit ihr knüpft nicht zuletzt an Diskurse der Kunst im öffentlichen Raum seit den 60er Jahren an und reflektiert die (macht)politische Rolle dieser Räume, die keineswegs neutrale städtische Leerstellen sind. Etwa im Begriff des Anti-Monuments oder Counter-Monuments wurde intensiv Kritik an den herkömmlichen Formen von Kunst im öffentlichen Raum und den repräsentativen Bestrebungen von Denkmälern geübt. In den Boden eingelassene, teils sogar invertierte und in ihn hineinragende Installationen strebten es nun nahezu an, übersehen zu werden.[4] Ähnlich auch Hemzemin, das im öffentlichen Raum als „Kampfort der Aufmerksamkeiten“[5] nicht mit Monumentalität konkurriert, sondern diese subtil dekonstruiert. In Verweigerungshaltung gegenüber überdimensionalen Proportionen und repräsentativem Streben in die Höhe transformieren hier die Künstler jedoch ein Alltagsobjekt, das nach wie vor dieser Logik folgt: Auch hier wird also weniger neues Wissen generiert, als dass die Arbeit an bestehende Diskurse anknüpft und diese geschickt umlenkt. Zugänglichkeit wird dabei wörtlich als Begehbarkeit verstanden, und wenn ein Fahnenmast die städtische Umgebung „regiert“, wie Günyol und Kunt schreiben, dann plädiert die in den Boden eingelassene Platte, im übertragenen Sinne, vielmehr für Basisdemokratie.

„Is it a flagpole, or is it a sculpture?”: Bedeutungsverschiebungen im System

Innerhalb dieser antihierarchischen, repräsentationskritischen Ansätze operieren Günyol und Kunt mit Bildern von starker ideengeschichtlicher Aufladung. Das Einschmelzen des metallenen Masts, wie Hemzemin es durchaus bildgewaltig im dazugehörigen, in der Gießerei gedrehten Video widergibt, ruft Assoziationen an die Friedenssymbolik etwa des Einschmelzens von Waffen auf. Zudem lässt das Unkenntlichmachen von Fahnen und Fahnenstangen an Fahnenverbrennung denken, die in vielen Ländern, in Deutschland etwa als „Verunglimpfen des Staates und seiner Symbole“ (§ 90a dStGB) unter Strafe steht. Als ikonoklastische Aktionen gegen bildliche Demonstrationen politischer Macht sind es Handlungen hohen Symbolwerts.

Wie lässt sich diese Prägnanz mit dem zurückgenommenen Look der Endprodukte vereinen, der gefälligen Ästhetik von Werken wie f.skl.246 oder Ceaseless Doodle – oder der Stahlplatte Hemzemin, die kaum Informationen preisgibt? Was nimmt der/die Betrachter/in hier primär wahr? Frei nach Max Imdahl ließe sich hier fragen: „Is it a flagpole, or is it a sculpture?“[6] Denn es ist sicherlich kein „12 meter stainless steel flagpole“, der sich uns am Hohen Wall präsentiert; eher denkt man vielleicht an die Metallplatten Carl Andres. Zwischen dem (absenten) Anfangsobjekt und dem (in der Ausstellung oder im Stadtraum gezeigten) Endprodukt besteht eine Spannung, die nicht zuletzt dadurch verstärkt wird, dass die ästhetische Form in ihrer Referenz auf andere Werke sowie in ihrer minimalistischen Perfektion bereits Validität beansprucht. Doch die Verwandlung drängt als Kontext ins Werk, und die Rezeption, die in einem ersten Schritt rein ästhetisch und über künstlerische Referenzen funktioniert, inkludiert in der Folge auch den Akt der Demontage und Umformung des Fahnenmasts. Eine Transformation also von einem repräsentativen Staatssymbol zu einem scheinbar entleerten Kunstzeichen, das selbst stets auf diese Transformation, auf den eigenen Herstellungsprozess und dessen Symbolhaftigkeit verweist.

Günyol und Kunts Arbeiten untersuchen so die Mechanismen visueller, sprachlicher und materieller Systeme, indem sie diese Manipulationen und Verschiebungen aussetzen. Die Klarheit und Prägnanz der Aktionen resultiert nicht zuletzt aus einer starken Fokussierung; wie bei einer Versuchsanordnung werden nur einzelne Parameter verändert, die Verfremdung erfolgt in einem Schritt. Die Ergebnisse haben gerade in dieser Reduziertheit und in ihrer formalen Strenge das Potenzial zur Projektionsfläche zu werden: Die imaginäre Präsenz des Abwesenden, der ursprünglichen Form, wie auch eine bemerkenswerte Anschlussfähigkeit an kulturelle Symboliken, künstlerische und gesellschaftliche Diskurse sowie sprachliche Bilder versammeln sich in der glatten, minimalistischen Ästhetik der Objekte.

Nicht zuletzt gelingt es Günyol und Kunt so, auf die Hierarchien zu verweisen, die ihre unmittelbare Umgebung konstituieren: Im Galerieraum etwa auf globale Ungleichheiten eines internationalen Kunstmarkts, der unter der Dominanz Europas und Nordamerikas nichtwestlichen Künstlern schließlich nur unter ganz bestimmten Bedingungen und vermarktbaren „Labels“ Zugänge bereitstellt.[7] Im öffentlichen Raum als direktere Adressierung von Bewohner/innen, Passant/innen, einer lokalen Öffentlichkeit. Davon ausgehend, dass sich gesellschaftliche Ordnung auch in der materiell und visuell erfahrbaren Umgebung manifestiert und sich in ihr laufend neu definieren kann, stehen Günyols und Kunts Werke für das politische Potenzial ästhetischer Erfahrung ein. In ihrer Verbindung von semantischer Prägnanz und Offenheit zielen die Werke letztlich auf ein Offenhalten, ein In-Erinnerung-Rufen von Debatten über gesellschaftliche Konstruktionen von Identität, Inklusion und Exklusion, und deren Repräsentationsformen innerhalb sozialer Systeme und Subsysteme.


[1]    246 Länder sind es gemäß der Liste offizieller Ländernamen und -codes (ISO-3166), worunter aber auch von der UN nicht anerkannte aufgeführt sind.

[2]    Felix Ruhöfer, „Kommunikationssysteme im Spannungsfeld gesellschaftlicher Gestaltungsprozesse“, in: Ars Viva 2012/13 – Systeme/Systems, Ausst.Kat. Neues Museum Nürnberg, Ostfildern 2012, S. 107-118, hier: S. 108.

[3]    Europa als Sehnsuchtsort und die Dekonstruktion desselben spielen auch in Günyols und Kunts Arbeiten eine Rolle, so etwa in Avrupa-lı-laş-tı-r-abil-di-k-leri-m-iz-de-n-mi-sin-iz?, 2007.

[4] „In the mid-1960s, the widespread feeling that the status of the political public monument had been rendered meaningless resulted in a new art form: monuments which tried to attain invisibility as a way of engendering reflection on the limitations of monumental imagery”, beschreibt Sergiusz Michalski diese Entwicklung. Sergiusz Michalski, Public Monuments. Art in Political Bondage 1870-1997, London 1998, S. 172.

[5] Bogomir Ecker, „Pferdelogik und Gurkensalat“, in: Public Art. Kunst im öffentlichen Raum, hg. v. Florian Matzner, Ostfildern-Ruit 2001, S. 432-441, hier: S. 436.

[6] „Is it a flag, or is it a painting?“, fragt Max Imdahl in seinem berühmten gleichnamigen Aufsatz anlässlich Jasper Johns’ Flag.

[7] Insbesondere wird dies durch die Referenz auf Richter in f.skl.246 deutlich, der als „großer deutscher Maler“ zu den global marktstärksten Künstlern gehört.