Text von Sandra Dichtl


Catalogue text: Özlem Günyol & Mustafa Kunt, 2014 Kettler Verlag

Sandra Dichtl: Die kollektive Konstruktion von Realität und ihr Potenzial zur Veränderung – ein Rundgang durch die Ausstellung „Özlem Günyol & Mustafa Kunt“

Die drei Themenfelder der Ausstellung – die symbolische Repräsentation von Macht, territoriale Grenzen und damit verbundene Ausgrenzung sowie die Materialität und Symbolik von Geld – sind allesamt aktuelle politische und gesellschaftliche Themen. Debatten um die Finanzkrise oder die gewaltsamen Kämpfe aufgrund territorialer Wachstums- und Autonomiebestrebungen dominieren die gegenwärtigen Nachrichten. Was uns Özlem Günyol & Mustafa Kunt vor Augen führen, ist keine direkte Anklage der gesellschaftlichen und politischen Missstände, sondern allseits geteilte macht- und gesellschaftspolitische Konstruktionen und deren Codierungen.

Es ist die spielerisch-ästhetische Herangehensweise der Künstler, die uns verdeutlicht: Es sind ebenjene Zeichen und Codes, die gesellschaftlich konstruiert und damit veränderbar sind. Die Herangehensweise der beiden 1977 und 1978 in Ankara geborenen Künstler behält sich eine Leichtigkeit vor, welche sie von normativen, also wertenden oder gar polemischen Haltungen abgrenzt. Die Handschrift ihrer Arbeiten wirkt schlicht und unwillkürlich, fast spielerisch und bewusst nicht hermetisch und sperrig, sondern ist leicht zugänglich und verständlich. Die beiden bevorzugen hinsichtlich der Arbeitsprozesse deutliche Differenz und Variation, da in ihren Augen ein Arbeiten mit der immer selben Technik das Medium vor den Inhalt treten lassen könnte.

Ein Plädoyer der beiden Künstler könnte lauten: Die Zwischenräume, die beim Versuch der Definition und Etablierung von Identitäten entstehen, offener und komplexer zu denken. Sie arbeiten sich ab an der Konstruktion und Manipulation, dem Verlust und Wandel der als kollektiv verstandenen Identitäten und fordern bzw. fördern eine generelle Skepsis gegenüber dem vermeintlichen Selbstverständnis und der Festschreibung von Identität. Entsprechende Fragestellungen und Themen sowie deren künstlerische Umsetzung gründen nicht zuletzt in der Biographie von Özlem Günyol & Mustafa Kunt: Beide studierten zunächst in der Skulptur-Abteilung der Hacettepe Universität in Ankara. Mustafa Kunt setzte sein Studium an der Frankfurter Städelschule bei Wolfgang Tillmans fort, der dort eine Klasse für Freie Kunst leitete, und schloss schließlich bei Willem de Rooij ab, dem nicht nur Motive und Themen, sondern auch die breiteren sozialpolitischen und (kunst-)historischen Kontexte wichtig sind. Özlem Günyol studierte zuletzt ebenfalls an der Städelschule, bei Ayse Erkmen, die mit Skulpturen und Projekten im öffentlichen Raum bekannt wurde.

Als Installation im öffentlichen Raum Dortmunds schufen Özlem Günyol & Mustafa Kunt eine Arbeit mit dem Titel Hemzemin. Für die an Carl Andrés Platten erinnernde Skulptur wurde ein 12 m langer Fahnenmast in ein flaches, 1,5 x 1,5 m großes Objekt transformiert und ist nun für die Dauer der Ausstellung gleichhoch dem Boden ein Teil desselben. Hinsichtlich des Masten ist es ein Akt der Anpassung an dessen Umgebung, die er für gewöhnlich überragt und zuweilen auch ästhetisch-symbolisch (als Fahnenträger) dominiert. In den Ausstellungsräumen zeigt eine Videoarbeit den Prozess der Zerteilung und Schmelze des Edelstahlmastens – bis hin zur Verlegung der aus ihm entstandenen Metallplatte in den Dortmunder Fußgängerweg am Hohen Wall. Der Titel der Arbeit bildet sich aus zwei zusammengesetzten Wörtern, die ursprünglich aus dem Persischen stammen und ins Türkische übernommen wurden. Persisch: ham (im Türkischen: hem) bedeutet: eins, zusammen, gleich – und Persisch: zamin (im Türkischen: zemin) bedeutet: Grund, Erde, Boden. Eine Übersetzung des Wortes Hemzemin könnte demzufolge sinngemäß lauten: zusammen sein auf einem gemeinsamen Grund und Boden. Der Fahnenmast ist ein häufig wiederkehrendes Symbol in den Arbeiten von Günyol & Kunt: Wurde unter dem Werktitel Flagpole (2007) ein Mast in Frankfurt von den beiden Künstlern „abgeknickt“ und die daraus resultierende abstrakte Form als eine ironische Parodie seiner selbst im Ausstellungsraum präsentiert, wird der Mast bei Hemzemin zu einer mysteriös glänzenden Bodenplatte, über die alltäglich mehr oder weniger aufmerksame Passanten laufen. Diese symbolische Erniedrigung eines Herrschaftssymbols erscheint in Dortmund aktuell am richtigen Ort, denn nur zwei Tage nach der Eröffnung dieser Ausstellung stürmten rund 20 Neonazis die Wahlparty der demokratischen Parteien im Dortmunder Rathaus. Mit Pfefferspray und Glasflaschen attackierten die Rechtsextremisten demokratische Politiker, die sich ihnen in den Weg stellten.[1]

In Frankfurt war bei Flagpole die Paulskirche – Tagungssitz des 1. Deutschen Parlaments – der Ort der Auseinandersetzung mit Fahnenmasten als Repräsentanten nationaler Zugehörigkeit. Nicht auszuschließen, dass es nach dieser historischen Reminiszenz nunmehr eine zeitgenössische ist – nämlich das florierende und dominierende Finanzgeschäft in der deutschen Bankenmetropole – die zu Arbeiten inspiriert, welche sich mit der Symbolik und Materialität des Geldes befassen. Die Künstler leben nämlich, seit ihrem Studium an der dortigen Städelschule, in Frankfurt am Main. Abgesehen davon beginnt die radikale ökonomische Verunsicherung zunehmend auch durch ihre Thematisierung in die Kunstproduktion hineinzuwirken. Es sind gerade die stark von der Krise betroffenen Länder und ihre Künstler, die auch im Rahmen großer Kunstereignisse Stellung beziehen. So zeigte Stefanos Tsivopoulos im griechischen Pavillon der 55. Biennale von Venedig die dreiteilige Videoinstallation History Zero (2013). Diese vergegenwärtigte die politische und wirtschaftliche Situation des verschuldeten Landes anhand eines Altmetall sammelnden afrikanischen Migranten, einer betagten Kunstsammlerin, die aus Euroscheinen Origamiblüten faltet, und eines Künstlers, der mit seinem Tablet-Computer, auf der Suche nach Motiven und Inspiration, zum Elendstouristen wird. Parallel dazu präsentierte im Eingangsbereich des Pavillons ein heterogenes Panorama 32 alternative Währungs-, Tausch- und Wirtschaftsmodelle, die vom Hackergeld Bitcoin bis zum Entwicklungshilfe-Hype der 2000er-Jahre, den Mikrokrediten reichten. Aktuell, anlässlich des einjährigen Jubiläums der eskalierten Proteste gegen die Bebauung des Gezi-Parks in Istanbul, ist das Heimatland von Özlem Günyol & Mustafa Kunt erneut Schauplatz von Demonstrationen gegen Korruption, der Dominanz der Ökonomie und machtpolitischer Bestrebungen. Ihre Arbeiten zum Thema Geld reflektieren wohl auch in diesem Sinne ihre eigene Herkunft und Prägung, doch ebenso die globalen politischen und gesellschaftlichen Geschehnisse. Die in Dortmund ebenfalls erstmals präsentierte Arbeit Untitled (2014) besteht aus einem Sockel, auf dem in passgenau gleichem Format Platten aus Zinn, Kupfer, Zink, Nickel, Messing, Aluminium und Stahl aufgeschichtet sind; sprich die Materialien, die bei der Herstellung von Euro-Münzen verwendet werden.

Formal ist es eine ästhetisch attraktive Strenge, die sich wie ein roter Faden durch die Werke der Künstler zieht. Im Fall von Untitled zeigt sich diese insbesondere in der schlichten und doch einprägsamen Gestaltung des Sockels, denn wie schon bei vorangegangenen Arbeiten schließen auch hier die Metallplatten bündig mit dem Sockel ab, präsentiert sich ein kompakter Quader. Vermittelt solcherlei Ästhetik eher Distanz, auch beim Betrachter, bricht sich diese umso mehr in den Videoarbeiten, die jener zu Hemzemin oder jene namens Game. Letztere zeigt eine Euromünze, die sich kontinuierlich dreht ohne umzufallen. Sprichwörtlich „rollt hier der Rubel“ und wird zu einem edelmetallenen, symbolischen „Hologramm“. Zudem besteht eine Referenz zum Film „Inception“ von Christopher Nolan aus dem Jahr 2010. Dort wird ein sich unaufhörlich drehender Kreisel zum Zeichen für einen Traumzustand, ein umgefallener hingegen für die Realität. Die Ungewissheit, ob in Game das Kreiseln schlussendlich stoppt, lässt die Überlegungen bzw. Interpretationen des Betrachters in der Schwebe, während sich in diesem symbolischen Bild gleichsam das gesamte Finanzsystem vor seinen Augen rotiert.

Scheinbogen besteht aus den sieben Farben der sieben Eurobanknoten im Wert von 5 bis 500 Euro. Die Farben sind den Euroschein-Mustern auf der Webseite der europäischen Zentralbank entnommen und – ausgehend vom 5-Euroschein im Geldwert aufsteigend – diagonal nebeneinander gesetzt, wobei die Darstellung an einen Regenbogen denken lässt. Regenbögen haben als beeindruckendes Naturschauspiel in der Kulturgeschichte der Menschheit ihre Spuren hinterlassen und tauchen in unzähligen Kunstwerken als Bildmotiv auf, von Caspar David Friedrich über Joseph Anton Koch bis hin zu Peter Paul Rubens. Der Titel Scheinbogen ist mehrdeutig: Er bezieht sich auf den Lichtschein des Regenbogens, den Geldschein, aber auch auf den Schein im Sinne eines Trugbildes, einer Täuschung.

Das Künstlerbuch State Paintings von 2008 zeigt 24 Makroaufnahmen von Sicherheitslineamenten in internationalen Reisepässen. Abgesehen von international verwendeten Sicherheitselementen, handelt es sich um individuelle Motive, Ornamente und Schriften in den Wasserzeichen, die den speziellen Charakter der jeweiligen Nation betonen sollen. Eine optisch verführerische Ornamentik und zugleich das ausgeklügelte Sicherungssystem werden hier unmittelbar deutlich. Als großes, weiß gebundenes Buch findet State Paintings seinen Platz auf einem Informations-Pult und darf von den Betrachtern nur mit Baumwollhandschuhen angefasst und durchgeblättert werden. Dies kann als ein augenzwinkernder Verweis auf die ansonsten aus historischen Museen bekannte didaktische Präsentationsform gesehen werden.

Neben den obligaten Reise- und Identitätsdokumenten, widmen sich Özlem Günyol & Mustafa Kunt in ihren Werken schon seit Längerem auch den Staats- bzw. Ländergrenzen. In der Wandarbeit Ceaseless Doodle, übersetzt „endloses Gekritzel“, werden die Konturen, sprich Ländergrenzen aller Staaten der Erde zu einem wirr anmutenden Geflecht von Linien in Form eines Knäuels verdichtet, der an eine allein aus Strichen gezogene bzw. bestehende Weltkugel denken lässt.

Des Weiteren werden von den beiden Künstlern auch die Methoden der Grenzsicherung thematisiert und symbolisch gebrochen. In diesem Falle mit den Mitteln der Musik, denn BTO-28, CBT-65, BTO-22 „vertont“ sozusagen drei international eingesetzte Nato-Stacheldraht-Typen, die sich durch die Form ihrer Klingen voneinander unterscheiden. Zunächst wurde hierfür der Ausruf „Ouch“ aufgenommen und der Soundclip dann als Grundlage für die graphische, an die Form des Klingendrahtes angelehnte Gestaltung eines Moduls herangezogen, das sich mit Hilfe eines Computerprogramms in eine Partitur umsetzen ließ. Diese Notation wurde dann in die Klänge von Streichinstrumenten übersetzt, was einen spannungsvollen Klang ergibt. Somit reicht das Spektrum an Präsentations- und Repräsentationsformen bei Günyol & Kunt von der ironisch gebrochenen didaktischen Intervention (State Paintings) bis hin zur subtil verschlüsselten Ästhetisierung des Grauens, einem klingenden Stacheldraht: „Im Deutschen wird dieser Typ Stacheldraht ‚S-Draht‘, ‚Z-Draht‘, ‚Klingendraht‘ oder NATO-Draht genannt, da er vom NATO-Verbündeten USA nach Deutschland eingeführt worden ist und über viele Jahre ausschließlich im Militärbereich verwendet wurde.“[2]

Durch die Dekonstruktion und kontextuell pointierte Reorganisation von Zeichen und Codes wird durch Günyol & Kunt nicht auf eine Wahrheit des Politischen abgezielt, sondern die „Politik der Wahrheit“ dechiffriert.[3] Der Begriff der „Politik der Wahrheit“[4] wurde von Michel Foucault geprägt, und bezeichnet eine gesellschaftliche Ordnung der Wahrheit, die anerkannte Techniken und Verfahren zur Produktion und Feststellung dieser Wahrheit hervorbringt und die immer auch mit spezifischen Machtverhältnissen verknüpft ist. Macht und Wissen verschränken sich in der Organisation und Herstellung von Fakten und deren Interpretation: „Vor allem aber sieht man, daß der Entstehungsherd der Kritik im wesentlichen das Bündel der Beziehungen zwischen der Macht, der Wahrheit und dem Subjekt ist. Wenn es sich bei der Regierungsintensivierung darum handelt, in einer sozialen Praxis die Individuen zu unterwerfen – und zwar durch Machtmechanismen, die sich auf Wahrheit berufen, dann würde ich sagen, ist die Kritik die Bewegung, in welcher sich das Subjekt das Recht herausnimmt, die Wahrheit auf ihre Machteffekte hin zu befragten und die Macht auf ihre Wahrheitsdiskurse hin. Dann ist die Kritik die Kunst der freiwilligen Unknechtschaft, der reflektierten Unfügsamkeit. In dem Spiel, das man die Politik der Wahrheit nennen könnte, hätte die Kritik die Funktion der Entunterwerfung.“[5]

Auch in diesem Sinne wird deutlich, dass Günyol & Kunt durch ihre Arbeiten nicht polemisch kritisieren, nicht eindeutig Stellung beziehen, sondern mit unterschwelliger Dekonstruktion und anschließender Rekonstruktion Wahrnehmungs- und Denkschemata durchbrechen und damit nicht nur neue Sichtweisen, sondern auch deren kritische Reflexion und schließlich Veränderung in der Begegnung mit Symbolen, Zeichen der Macht, Codes verlautbarter Wahrheit eröffnen.


[1]
                  [1] Siehe http://blog.zeit.de/stoerungsmelder/2014/05/26/neonazis-ueberfallen-wahlparty-im-dortmunder-rathaus_16406 (04.06.14, 10:52)
 

[2] http://www.s-draht.de/produkte/sicherheitsdraht/sicherheitsdraht.htm

[3] Den Dokumentarismen widmet sich seit Jahren vor allem die Künstlerin und Autorin Hito Steyerl. Siehe Hito Steyerl: Politik der Wahrheit. Dokumentarismen im Kunstfeld, in: springerin 03/2013, Reality Art; sowie Hito Steyerl: Die Farbe der Wahrheit.  Dokumentarismen im Kunstfeld, Wien 2008.

[4] Michel Foucault: Technologien der Wahrheit, in: Jan Engelmann (Hg.): Foucault – Botschaften der Macht. Reader Diskurs und Medien. Stuttgart 1999, S. 133-144

[5] Foucault, Michel (1992): Was ist Kritik? Berlin: Merve Verlag.