Laudatio von Holger Kube Ventura anlässlich der Ausstellungseröffnung „Beyond the Horizon“ von Özlem Günyol & Mustafa Kunt – Preisträger 2017 des „HAP-Grieshaber-Preis der VG Bild-Kunst“ – im Projektraum des Deutschen Künstlerbund, Berlin, 5. September 2017
In der hier zu eröffnenden Ausstellung zeigen Özlem Günyol und Mustafa Kunt fünf Werke, die für das Œuvre des türkischstämmigen Duos im Zusammenspiel repräsentativ sind. Bei allen erkennt man jeweils umfangreiche künstlerische Arbeitsprozesse, die in klar strukturierte Bildformen münden, dem Auge bei näherer Betrachtung viel zu bieten haben und insofern zunächst „schön“ zu sein scheinen. So hat bei dem heute erstmals gezeigtem Werk „Toward the Horizon“ das wochenlange, stoische Auftragen einzelner, gerader, schwarzer Linien mit dem Tuschestift dazu geführt, dass schließlich eine monumentale, tiefdunkle Fläche entstanden ist, deren Dichte nun so magisch anzieht. Auch bei dem Objekt auf dem Sockel ist zu erkennen, dass es sich eben nicht bloß um ein industriell hergestelltes Seil handelt, sondern um ein großes Stück Stoff, dass offenbar so lange gedreht und gewrungen wurde, bis es sich von der Fläche in eine Linie verwandelte. Man kann die hinein gebrachte Energie, die Anspannung darin förmlich spüren. Beide Arbeiten sind zeitaufwändig handgemacht, ihr minimalistisches Herstellungsprinzip ist leicht zu verstehen und umso mehr bereitet es daher ästhetischen Genuss, die ins Extreme getriebenen Wiederholungen sinnlich nachzuvollziehen und dabei nach material- oder handlungsspezifischen Abweichungen zu suchen.
Sobald man aber die angebotenen Informationen zu den Werken liest, verändert sich dieser erste Eindruck. Wir erfahren, dass für “Toward the Horizon” genau 188.333 Linien in der Länge von 60 cm gezogen wurden, dass 60 Zentimeter die durchschnittliche Schrittlänge eines Gehenden ist, dass die Gesamtlänge aller Linien 113 Kilometer ergeben und dass dies die kürzeste Entfernung zwischen Tunesien und Italien sei. Der „Weg zum Horizont“, von Afrika nach Europa – unweigerlich werden durch solche Hinweise die seit Jahren wiederkehrenden Schlagzeilen von Geflüchteten auf der italienischen Insel Lampedusa aufgerufen und auch die Zahlen Jener, die diese Reise nicht überleben. Das mühsame Aufzeichnen so vieler schwarzer Linien erscheint somit als ein Nachvollziehen solch einer Flucht, als ob die Schritte nach Europa gezählt werden, die zuletzt in einem undurchdringlichen Schwarz enden. Um diese über 188.000 Schritte tun zu können, müsste man allerdings wie Jesus über Genezareth gehen oder auf dem Meeresgrund zwischen Tunesien und Italien wandeln können. Handelt es sich bei dieser Arbeit vielleicht um ein Denkmal? Wie in anderen ihrer Schaubilder zu Flüchtlingsrouten kommen Günyol/Kunt hier zu einem Ergebnis, mit dem das Thema auf verschiedenen Bedeutungsebenen geradezu umzingelt wird.
Auch das Objekt auf dem Sockel verändert sich völlig, sobald die Information hinzu kommt, dass es sich bei dem zum Seil transformierten Stück Stoff um ein 22 Meter langes Demonstrations-Transparent mit der Aufschrift „… AND JUSTICE FOR ALL!“ handele. Auf einem derart großen Protestbanner wäre die fragmentierte Teilforderung „… und Gerechtigkeit für Alle!“ zwar sicher lautstark. Vielleicht aber bräuchte es eher ein handfesteres Werkzeug, um die Einlösung dieser Forderung tatsächlich mal herbei zu führen, etwa ein Seil – mit dem man zusammen ein Gefängnisgitter herausreißen, Jemanden fesseln oder wenigstens ein Tauziehen veranstalten könnte. Wem aber würde dies dann dienen? Verhöhnen die Künstler mit ihrem Transformationsobjekt zahnlose Demonstrationsfloskeln und fordern stattdessen zur konkreten Handlung auf? Ist es ein künstlerischer Vorschlag, um angesichts von Staatsgewalt mittels situationistischer Experimente im Debord’schen Sinne nach Wegen aus der Ohnmacht zu suchen? Oder wird etwa den Demonstranten der Strick angedroht? Jede Interpretation spiegelt hier die eigene Grundhaltung zu politischen Konflikten zwischen Hegemon und Opposition. Im Übrigen bleibt offen, ob dieses Transparent eigentlich jemals irgendwo gehangen hat, oder ob es wohlmöglich gar kein Readymade, sondern ein von den Künstlern eigens zum Zweck der Werkproduktion erschaffenes Artefakt ist. Sicher scheint nur, dass diese Arbeit 2010 entstanden ist, also in jenem Jahr, als der von Ministerpräsident Erdoğan vorgeschlagenen Justizreform im Rahmen des Verfassungsreferendums der Türkei zugestimmt wurde.
Einige Jahre später realisieren Günyol/Kunt eine Skulptur, die in ähnlicher Weise nach dem Potential und der Wehrhaftigkeit von friedlichem Protest fragt. Sie besteht aus Schleifen von NATO-Draht, dessen Klingen die Schallwellen von Rufen und Parolen darstellen, die bei den Protesten gegen die geplante Bebauung des dadurch berühmt gewordenen Gezi Parks in Istanbul zu hören waren. Die Künstler haben also Klänge des Protests in Klingen der „Selbstverteidigung“ – so der Titel dieser Arbeit – überführt. Wiederum werden dadurch sehr unterschiedliche Lesarten ermöglicht, die dann auch von einer (je nachdem) eher skeptischen oder eher optimistischen Haltung des Interpretierenden gegenüber zivilem Ungehorsam erzählen würden. So mag diese Skulptur einerseits für die Wehrhaftigkeit des Widerstands stehen und behaupten: Wer dessen Stimmen angreifen will, wird sich verletzen! Andererseits könnte diese Skulptur eine Militarisierung der Opposition anklagen, die nun offenbar ebenfalls Blutvergießen in Kauf nimmt. Wäre das noch „Selbstverteidigung“? In jedem Fall umschreibt die so betitelte Skulptur von Günyol/Kunt eine Eskalierung und es scheint daraus eine künstlerische Praxis zu sprechen, die ihren Platz in Oppositionsbewegungen sucht. Weder kennt sie diesen Platz bereits, noch hält sie sich für identisch mit oder völlig getrennt von konkreter Gegenwehr. Es ist eine politisch-künstlerische Praxis, die sich über die Stärken und Schwächen einer Engführung von Macht und Gegenmacht auf der Ebene von Repräsentationen sehr bewusst ist. Sie weiß um die Chancen und Risiken von Bildpolitiken, auf der Straße, im öffentlichen Raum, im medialen Raum und auch im elitären Schutzraum einer Kunstausstellung.
Özlem Günyol und Mustafa Kunt haben beide in Ankara Bildhauerei und Skulptur studiert und artikulieren ihre Ideen und Konzepte heute aber auch in den Medien Zeichnung, Grafik, Installation, Fotografie, Video, Klang und Performance. Ausnahmslos alle ihrer Arbeiten haben politische Bezüge. Viele beschäftigen sich mit staatlichen Repräsentationen, Herrschaftszeichen und Exekutivmitteln und versuchen diese zu dekonstruieren. Zu den wiederkehrenden Sujets gehören Nationalflaggen und Nationalhymnen, Monumente, Ehrenmäler, Prunksäulen, Sockel und Fahnenmaste, die Körpersprache von Wahlkämpfern, Methoden der Personenüberwachung und der Todesstrafe, der Euro und das reichste Prozent, die Festung Europa, Staatsgrenzen und Reisepässe, Migrationsrouten und Flüchtlingskatastrophen oder auch Grundlagentexte wie die UN-Menschenrechts-Charta.
An Letztere erinnert die 16-teilige Arbeit „That which remains…“, die ebenfalls eigens für diese Ausstellung entstanden ist. Auf jedem Blatt sind nur bei näherer Betrachtung zentrale Begriffe aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 zu erkennen. Ihre Buchstaben bestehen aus Salz. Günyol/Kunt haben dieses Salz aus Meerwasser herauskristallisiert, das sie aus dem Ägäischen Meer mitgebracht hatten, genauer gesagt aus Dikili und Cesme in der Türkei, und aus Lesbos und Chios in Griechenland. Damit sind vier Hauptorte des so genannten Flüchtlings-Deals benannt: Die EU hat mit der Türkei vereinbart, alle seit März 2016 in Griechenland gestrandeten Flüchtlinge, die dort kein Asyl beantragen, in die Türkei zurückzuschicken und im Gegenzug für jeden von Griechenland in die Türkei abgeschobenen Syrer einen syrischen Flüchtling aus der Türkei aufzunehmen. Dieser Deal ignoriert zahlreiche Artikel der UN-Menschenrechts-Charta. Deren zentrale Werte-Begriffe kristallisieren Günyol/Kunt aus jenem Meerwasser heraus, durch das die Deportationen verlaufen.
Auch der gerahmte Druck „hak“ aus dem Jahr 2015 sucht nach einem Bild für die Essenz und reale Relevanz eines gesellschaftlichen Grundlagentextes. In diesem Fall geht es um die Verfassung der türkischen Republik. Die Künstler haben sich den Text dieser Verfassung vorgenommen und jedes Mal, wenn auf einer Seite das Wort “hak” – zu deutsch: „Recht“ – erscheint, diese dann so ausgerichtet, dass es im Mittelpunkt einer Fläche steht. Alle Seiten der Verfassung wurden auf diese Weise ausgerichtet, übereinander montiert und sodann auf einem Bogen gedruckt. Das Ergebnis ist die graphische Darstellung einer Verfassung, in der das „Recht“ immer im Zentrum steht, also das Wichtigste sei. Nur leider sind durch das Zentrierungsmanöver alle anderen Worte und Begriffe dieser Verfassung ausgelöscht worden: Es haben sich Balken gebildet, die an Zensurmaßnahmen erinnern. Das sture Pochen auf Recht ist also offenbar nicht ideal. Ist es vielleicht wenigstens schön?
Methoden des Überlagerns, Zentrierens und Übersetzens in andere Medien wenden die beiden Künstler öfters an. Zum Beispiel bei ihrem Sandwich-Druck aus Porträtfotos der 100 reichsten Personen der Welt, bei ihrer Sound-Installation aus allen Nationalhymnen, bei ihren Analysen von Wahlkampf-Parolen und Geldschein-Farbgebungen und bei ihrer Serie von Arbeiten zu Nationalflaggen. Zu Letzterer gehört die fünfte neue Arbeit von Günyol/Kunt in dieser Ausstellung, nämlich die Installation „Reds, Yellows & Blues”. Sie besteht aus drei bodennah aufgestellten Monitoren, die eigentlich nur eben diese drei Farben zeigen, beziehungsweise – wie es der Titel aus ungewöhnlichen Pluralformen schon andeutet – verschiedene Töne davon. Diese wurden aus den Nationalflaggen dieser Welt abgeleitet und wechseln auf den stummen Bildschirmen etwa alle 10 Sekunden. Offenkundig gibt es also nicht nur das eine Rot, Gelb und Blau – also jene Primärfarben der historischen Dreifarben-Theorie, aus denen alle anderen Farben gemischt werden können – sondern immer wieder neue Nachbarschaften im Kontinuum des Farbspektrums und neue potentielle Fusionen. Gemeint sind damit natürlich nationalstaatliche Identitäten. Der Titel eines berühmten Werkes von Barnett Newman fällt mir dazu ein: “Who’s Afraid of Red, Yellow and Blue?” – und auch die Attacken, die es darauf gegeben hat.
Aus dem Œuvre von Özlem Günyol und Mustafa Kunt spricht, dass diese Konzeptkünstler anhand von Symbolen und Repräsentationen von Macht und Gegenmacht systematisch nach derem Wesen zu suchen scheinen. Es ist ihnen nicht zum Lachen zumute dabei. Sie arbeiten streng und ausdauernd, glauben an das politische Potential ästhetischer Erfahrung – und greifen an. Die von ihnen konzipierten künstlerischen Handlungen führen zu Werken, die ihrerseits zu Handlungsakten führen könnten, mit denen sich spezifische gesellschaftliche Formationen vielleicht überwinden ließen. Ihre Transformations-Kunstwerke sind Anschläge, Anstiftungen und Entgegnungen, die aber klugerweise keine unmissverständliche Position einnehmen. Denn nur so kann die Perspektive des Betrachters auf formal abstrahierte Informationen und Ereignisse ins Zentrum seiner Reflexion gelangen: Wie stehe ich nun zu dieser Ästhetisierung des Grauens der Zeitläufte? Spiegelt das Werk meine politische Passivität, oder ist es schon Teil eines Veränderungsprozesses? Die Kunst dieses Duos ist nicht wissend, nicht zynisch, polemisch oder anklagend, vielleicht etwas traurig, aber nie resigniert. Sie legt Finger in Wunden und fragt, wer von wo aus damit umgeht. Die im Kunstjargon allzu oft bemühte Floskel von der Suche nach neuen Sichtweisen passt hier also tatsächlich einmal. Und deswegen freue ich mich sehr, dass Özlem Günyol und Mustafa Kunt mit dem HAP-Grieshaber Preis 2017 gewürdigt und unterstützt werden.