Laudatio von Dr. Thomas Köllhofer

Laudatio von Dr. Thomas Köllhofer anlässlich der Ausstellungseröffnung “Untitled (Gisei)”, ENTEGA AG, Darmstadt Eröffnung Günyol und Kunt / Darmstadt 11.2.2010

Kunsthistoriker neigen dazu, bei Adam und Eva anzufangen.
Manchmal aber lässt es sich wirklich nicht vermeiden.

Wenn es um Begriffe wie Chaos und Ordnung geht, landet man fast zwangsläufig
bei der Erschaffung der Welt.

Die Schöpfungsmythen nahezu aller Völker dieser Erde beginnen so, dass ein Gott oder eine göttliche Kraft aus einer Urmaterie die Erde schuf.

Die Urmaterie steht für eine chaotische Mischung alles Seins und in dem Gott dieses Chaos ordnet, d.h. es nach bestimmten Kriterien aufteilt, erschafft er die Welt.

Im Schöpfungsmythos der Bibel, in der Genesis heißt es entsprechend:

Am Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde. Die Erde aber war wüst und leer gewesen, Finsternis lag über dem Urmeer und ein Gottessturm fegte über der Wasserfläche.

In der Folge dann scheidet Gott:      

  • Licht und Finsternis
  • Himmel und Wasser
  • Wasser und Erde

dann formt er die verschiedenen Formen von Pflanzen, Lebewesen und schließlich aus Erde, aus der amorphen, chaotischen Masse auch den Menschen.

Schöpferisches Tun wird also dadurch erklärt, dass aus einem Chaos durch eine äußere Kraft eine Ordnung geschaffen wird.

Das Künstlerpaar Özlem Günyol und Mustafa Kunt, (und sie sind in ihrer Gemeinsamkeit eine Marke), hatten für diese Arbeit hier die Vorgabe, sich mit einer neuen künstlerischen Arbeit auf ein bedeutendes aktuelles kulturelles Ereignis Darmstadts zu beziehen.

Konkret bedeutete dies die Auseinandersetzung mit dem am Darmstädter Staatstheater kürzlich uraufgeführten Musikdrama von Carl Orff.

 Es handelt sich dabei um Orffs erstes, bereits 1913 entstandenes  Bühnenwerk mit dem Titel „Gisei“ (Das Opfer), das der Komponist selbst zwar nicht zur Aufführung bringen wollte, das von der Familie glücklicher Weise aber doch für eine Veröffentlichung frei gegeben wurde.

Das Stück lehnt sich an das Textbuch eines altjapanischen Trauerspiels mit dem Titel „Terekoya“ (Die Dorfschule) an.

In dem Stück beklagen zwei Gestalten, ein Mann und eine Frau, den Opfertod ihres Kindes, das bewusst anstelle eines anderen, ihm ähnlich sehenden Kindes getötet wird. Es ist ein Drama, in dem die Unabwendbarkeit des Schicksals thematisiert wird.

Das musikalische Stück „Gisei“ zeigt in Ansätzen all das, was Orffs späteres musikdramatisches Opus kennzeichnet: Ich zitiere aus einer Rezension: „die Suche nach neuen Klängen, Vitalisierung elementarer Rhythmen, Dramatisierung der Sprache, Auseinandersetzung mit dem Denken und Handeln fremder, hier fernöstlicher Kulturen“

Was aber hat dieses Kunstwerk mit dem Stück Karl Orffs zu tun?

Entstanden ist eine Arbeit, die in ihrer ornamental – konkreten Erscheinung einen sehr großen ästhetischen Reiz hat, die aber darüber hinaus eine ganze Reihe von Beziehungen zu eben diesem Stück, zu Karl Orff und zum Darmstädter Kulturleben und Kunstschaffen zu bieten hat.

Die Künstler haben sich das Libretto des Trauerspiels geben lassen.

Den Text haben sie aber auf eine ganz eigene, für ihr Arbeiten durchaus typische Art und Weise in ein neues Werk übersetzt bzw. transformiert.

Was Sie hier an der Wand sehen, das ist der gesamte Text des Trauerspiels. Kein Buchstabe fehlt. Allerdings haben die Künstler den Text nicht nur in seine einzelnen Worte, sondern die einzelnen Worte in ihre kleinsten Bestandteile, in die einzelnen Buchstaben und Satzzeichen zerlegt.

Entsprechend der Häufung ihrer Verwendung produzieren die einzelnen Buchstaben, die stark verdichtet, sich gegenseitig überlagernd auf die Wand gebracht sind, unterschiedlich lange Reihen. Sie haben hierfür eine Schrift verwendet, die ein sehr ausgeprägtes graphisches Schriftbild erzeugt. Dadurch aber dass sich die einzelnen Buchstaben überlagern, entstehen graphische Ornamente, in denen kaum noch die einzelnen Buchstaben wahrgenommen und somit gelesen werden können.

Das mag auf den ersten Blick wie gelungenes formales Spiel wirken, ist aber durchaus mehr.

Bereits im frühen 20. Jahrhundert haben sich Bildende Künstler mit dem Phänomen der Sprache auseinandergesetzt.

Baudelaire fordert die Vernichtung der Erzählung zugunsten der Form des Gedichtes.

Kurt Schwitters schreibt die Ur-Sonate, in der das rhythmische Klangbild den Inhalt dominiert – und

Tzara schließlich fordert die Vernichtung des Wortes für das Nichts.

Aber damit sind wir keineswegs am Ende der Entwicklung bei der Verwendung von Schrift durch Künstler angelangt.

In den 50er Jahren gibt es dann eine Bewegung, die mit der Sprache wie auch mit der Schrift in ganz neuer Art und Weise spielt.

Hier in dieser Stadt entstand der sogenannte Darmstädter Kreis. Das  war eine Gruppe experimenteller Schriftsteller und Regisseure, der sich ab 1957 um Claus Bremer, Daniel Spoerri und Emmet Williams am Landestheater Darmstadt formierte. Ihm gehörten auch Dieter Rot und André Thomkins an. Dieser Kreis versuchte, die Erfahrungen des experimentellen Theaters auf deutsche Bühnen zu übertragen und ein dynamisches Theater zu entwickeln, das das Publikum ins Spiel zu Stellungnahme und gleichberechtigter Aktion aufforderte.

Dies bedeutete, dass der Inhalt einer linearen Erzählung zu Gunsten einer nicht kontrollierbaren, gewissermaßen chaotischen, aber sehr kreativen Situation aufgegeben werden sollte.

Einige Mitglieder des Darmstädter Kreises waren ebenso unter den ersten Lyrikern, die Versuche mit konkreter Poesie anstellten. (Zu ihnen gehörten dann auch Franz Mohn, Eugen Gommringer Rot, Spoerri und andere.)

Damit sie verstehen, was man sich unter konkreter Poesie vorstellen kann, lese ich einige Sätze aus einem Manifest der konkreten Poeten vor:

Darin heißt es:

MAN MUSS DAS ‘ICH’ IN DER LITERATUR ZERSTÖREN

  1. MAN MUSS DIE SYNTAX DADURCH ZERSTÖREN, DASS MAN DIE SUBSTANTIVE AUFS GERATEWOHL ANORDNET, SO WIE SIE ENTSTEHEN.
    2. MAN MUSS DAS VERB IM INFINITIV GEBRAUCHEN […].
    3. MAN MUSS DAS ADJEKTIV ABSCHAFFEN […].
    4. MAN MUSS DAS ADVERB ABSCHAFFEN […].
    5. JEDES SUBSTANTIV MUSS SEIN DOPPEL HABEN […].
    6. AUCH DIE ZEICHENSETZUNG MUSS ABGESCHAFFT WERDEN.

Sie sehen, dass es hier ganz wesentlich um eine erste Sinn-Entlehrung der Texte ging, um ein inhaltfreies Spielen mit Sprache. Entsprechend der Maxime „die Sprache prägt das Denken“ sollten daraus aber neue Sinnzusammenhänge entstehen.

Innerhalb der konkreten Poesie entsteht dann eine weitere Bewegung, die so genannte Visuelle Poesie.

Die Visuelle Poesie ihrerseits ist wesentlich durch eine Auseinandersetzung mit außereuropäischen Traditionen, insbesondere mit japanischen Tradition der „Shikakushi“ (dem Text für das Auge) oder „Shishi“ (dem Sehtext), entstanden.

Indem Özlem Günyol und Mustafa Kunt den vorgegebenen Text ordnen, beziehen sie sich auf die ganz ursprüngliche Form dessen, was künstlerisches Tun ist. Eine Form schaffen, eine Gestalt entstehen lassen  heißt, etwas aus einer undefinierten Masse herausheben. Hier geschieht es durch das Aufteilen, das Separieren von Einzelteilen aus dem Ganzen, die so in ihrer eigenen, einer neuen Gestalt erkannt werden können.

Gleichzeitig findet eine Form der Demokratisierung  von Sprache, bzw. deren Bestandteilen statt.

Die Buchstaben werden als reine Zeichen inhaltsfrei nebeneinander gestellt.

Es entsteht ein Ornament, das sich absolut von dem grausamen Inhalt des japanischen Trauerspiels befreit hat.

Allerdings greift die Arbeit etwas auf, das wiederum mit Orff und seiner Auseinandersetzung mit Japan zu tun hat.

Oben haben wir gehört, dass es Carl Orff bei seiner Suche nach neuen Klängen um die Vitalisierung elementarer Rhythmen ging und unter anderem auch um die Auseinandersetzung Klangfeldern, bei denen Töne aus ihrer linearen Präsenz herausgelöst werden.

Die Künstler beziehen sich auf gerade in dieser Stadt wesentlich mit entstandene Bewegungen der konkreten und der visuellen Poesie. Diese hat gleichzeitig einen deutlichen Bezug zu der japanischen Tradition der „Shikakushi“ (den Texten für das Auge). Damit erweisen sie abermals eine Referenz an Karl Orff und seine Bemühungen um eine Auflösung musikalisch melodischer Linearität.

Die Auflösung der Sprache in ihre Bestandteile, die Buchstaben, ermöglicht eine völlig neue Form des Denkens. Das Rohmaterial ist sortiert und kann neu zugeordnet werden.

Mit ihrer Arbeit haben Özlem Günyol und Mustafa Kunt weniger eine Ordnung geschaffen, als vielmehr etwas, das dem Chaos viel näher kommt. Die Auflösung eines narrativen Textes, die Auflösung sprachlicher Linearität und Ordnung zugunsten eines gleichberechtigten Nebeneinanders von Buchstaben.

Immer dort, wo etwas aus einer bestehenden Ordnung herausgenommen wird, wird es tendenziell ins Chaos überführt.

Durch die Ordnung der Buchstaben schaffen sie gleichzeitig ein Bild, das sich direkt mit dem Wesen eines Schöpfungsprozesses auseinandersetzt. Es ist der künstlerische Akt selbst, der hier Bildhaft, bzw. Form werdend, sich selbst thematisiert.

Dr. Thomas Köllhofer